Januar 27, 2008

Die Könnensgesellschaft


Ein Essay über die Zukunft der Künste

Der Tag, an dem sich die Kunst vom Können emanzipiert hat, war ein schwarzer Tag in der Geschichte der Menschheit und unserer Kultur. Es war die logische Konsequenz des Übergangs zur Industriegesellschaft und es führte dazu, dass das Können, als wichtigstes individuelles und kulturelles Vermögen, in einem unvorstellbaren Umfang abgewertet wurde und heute immer noch wird.
Ein gesellschaftliches Gemälde, in dem sich die anmaßende „wahre Kunst“ als „Ware Kunst“ von den dahinter stehenden Verhältnissen nicht befreien kann und will. Das Geschah im Interesse der Wirtschaft, die auf dem Konsumismus basiert, der inzwischen aber dabei ist, seine eigenen Grundlagen zu zerstören: seine natürlichen und seine kulturellen Voraussetzungen.
War früher das Können für diesen Stoffwechsel mit der Natur konstitutiv und hatten alle Menschen ihren Anteil an diesem Können und waren aktiver Teil von alltäglicher Kulturproduktion, so hat im 19. Jahrhundert die Industrie mit dem Kunstkönnen und der damit verbundenen kulturellen Vielfalt Tabula Rasa gemacht.

Die Welt dahinter: die Welt der Produzenten, die Welt der lebendigen Arbeit erfuhr einen ökonomischen und kulturellen Abwertungsprozess ohne gleichen.
Europa spielte bisher eine einzigartige Rolle in der Welt: wegen seiner großen kulturellen Vergangenheit und der unvorstellbaren Vielfalt auf engstem Raum.
Das 20. Jahrhundert hat dann aus Menschen Konsumenten gemacht. Dies war wiederum mit einem deutlichen Verlust an Alltagskompetenzen, Alltagswissen und Können verbunden. Unter den Bedingungen der Globalisierung droht dem Können und dem Restbestand an aktivem, eigenständigem kulturellen Vermögen nun endgültig das Aus. Wissen ist alles, Können ist nichts. Das Bildungsziel an den öffentlichen Schulen ist konsequenter Weise auch nicht mehr die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Leben, sondern „Employability“ die Fähigkeit als Arbeitskraft nachgefragt zu werden.

Doch das war und kann nicht Europas Weg in die Zukunft sein. Wenn unsere Bildungssysteme, Politik und Gesellschaft weiterhin das Ziel verfolgt, dass die Masse der Menschen in Europa in Zukunft nichts mehr können sollen, außer Fernsehen – dann ist diese Kultur und ihre Wirtschaft schon deshalb bald am Ende, weil uns Grenzen gesetzt sind, die wir nicht länger ignorieren können.
Wenn wir unseren Wohlstand in Zukunft mit einem Bruchteil an Ressourcenverbrauch erzeugen müssen und dennoch, entsprechend unserer europäischen Kultur, allen Menschen nicht nur eine passive Teilhabe – als Konsumenten – sondern eine aktive Teilhabe als Produzenten und gesellschaftliche Wesen zugestehen wollen, dann kann dies nur gelingen, wenn wir eine Könnensgesellschaft werden. Eine Gesellschaft die verstanden hat, dass die Grenzen des Wachstums, die uns gesetzt wurden, nur quantitative Grenzen sind aber niemals keine Könnensgrenzen. Wir müssen eine Gesellschaft von Könnern werden, die in einen Wettstreit darum eintritt, wer innerhalb der uns gesetzten Grenzen am besten aus wenig viel macht.
Eine Gesellschaft des Respekts vor dem Können und dem menschlichen und kulturellen Potenzial eines Jeden. Eine Gesellschaft in der wir bereit sind unser Können gegenseitig zu respektieren, und für die Vielfalt der Künste und des Könnens einen fairen Preis zahlen. Eine Wirtschafts –und Lebensweise, die dem Schutz und der Entfaltung des Lebens dient und dem sich entfaltenden Können jedermanns Respekt zollt. Eine Gesellschaft, die nicht auf Abwertung sondern auf Wertschätzung und Aufwertung des menschlichen Können beruht.

Denn Könnerschaft zu entfalten ist ein menschliches Vermögen, das Quelle eines dauerhaften Glücks ist. Könnerschaft, verbunden mit der Fähigkeit einen echten und einen sinnvollen Nutzen für sich und andere zu erzeugen, ist eine Quelle dauerhaften, individuellem und kollektivem Wohlstandes. Das Prinzip Können schließt niemanden aus, der zwei Hände hat, einen Kopf zum Lernen, ein Herz und Talent. Denn Können ist anders als Wissen etwas, dass auf Übung und Erfahrung beruht, das wir ein Leben lang und bis ins hohe Alter entfalten, perfektionieren und weitergeben können, das uns selber und uns gegenseitig kostbar macht.

In den gesättigten Märkten hat die Massenproduktion es schwer. Aber auch die Steigerung der Variantenvielfalt in der Massenproduktion führt letztlich zu einem Überdruss am immer mehr vom immer gleichen.
Sollte es gelingen, dass der in unserer Konsumentengesellschaft entbrannte Wettbewerb um Kennerschaft in einem gelebten vor Könnerschaft mündet, dann bestehen Chancen, dass der Übergang in eine „dematerialisierte Wissensgesellschaft“ geling, ohne das wir mit einen großen Teil der Gesellschaft als „entqualifizierte Jobholder“ und „Diener einer neofeudalen Gesellschaft“ abhängen. Daran würde nicht nur unsere Kultur, daran würde jeder Schaden nehmen: der Diener und der Herr.
Text - Copyright: M.A. Christine Ax
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