März 05, 2008

Interview mit Richard Sennett

KulturGut:In Ihrem Buch „Craftmanship” beschreiben sie Handwerk als zentralen Aspekt unserer Kultur. Was geschieht, wenn das Prinzip Handwerk verlorgen geht?

Richard Sennett:
Die Menschen verlieren ihre Selbstachtung und die Fähigkeit eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen.

KulturGut:Ist Handwerk einem ständigen Niedergang unterworfen, oder können wir Handwerk als etwas beschreiben, dass sich seit Jahrtausenden immer wieder neu erfunden hat?

Richard Sennett:
Das ist eine gute Frage. Unsere Vorstellung von Handwerk ist tatsächlich oft veraltet und zu romantisch. Wir verbinden mit dem Begriff „Handwerker“ oder „craftsman“ oft nur die Kunsthandwerker. Aber tatsächlich hat sich Handwerk immer wieder neu erfunden. Manchmal unterstützt durch Computer. Manchmal im Rahmen neuer technischer Produktionsverfahren. Selbst im Bereich der Dienstleistungen finden wir Handwerk. Krankenpflege zum Beispiel, ist meiner Meinung nach ein Handwerk. „Craftmanship“ bedeutet für mich das Prinzip des Erlernens und Übens von Fertigkeiten, persönliches Engagement und der Wunsch und die Fähigkeit Arbeit um ihrer Selbst willen, gut zu machen.

KulturGut:Nun gibt es - anders als in den USA - in Europa nicht nur das Prinzip Handwerk sondern auch Volkswirtschaften in denen der Sektor Handwerk eine bedeutende Rolle spielen. Wir finden in Deutschland und Österreich viele Handwerksunternehmen, die alle ihre Definition von „Craftmanship“ erfüllen.

Richard Sennett:
Ja. Aber Ich glaube nicht, dass wir Craftmanship nur mit diesen kleinen Unternehmen in Verbindung bringen sollten. Toyota zum Beispiel ist ein Weltkonzern. Aber die Arbeiter in der Fertigung wissen genau, was ihre Maschinen können und sie haben das Recht, das Fließband anzuhalten. Das Gleiche gilt für Nokia, das ich für ein nach handwerklich organisiertes Unternehmen halte. Craftmanship ist etwas, das wir nicht nur in kleinen Unternehmen finden. Ich habe mich in Japan mit Arbeitern von Toyota unterhalten. Sie stoppten das Fließband. Wir sprachen über ihre Arbeit. Anderseits haben Sie In einer Hinsicht Recht. Gutes Handwerk braucht oft die persönliche Kommunikation. Dennoch sollten wir nicht davon ausgehen, dass Handwerk nur für kleine Unternehmen wichtig ist und nur dort gelebt werden kann. Wir sollten in Sachen Handwerk auch von Toyota und Nokia lernen, von ihrer Art und Weise die Arbeit in ihren Fabriken organisieren.

KulturGut:Gibt es nicht einen natürlichen Gegensatz zwischen Handwerk und Industrie? Basiert das Prinzip „Industrie“ nicht auf Standardisierung und Kontrolle aller Prozesse? Neigen die industriellen Unternehmen nicht dazu, die ganze Wertschöpfungsketten bis hinunter zum Menschen kontrollieren und steuern zu wollen – einschließlich der Märkte und des Konsumverhaltens?

Richard Sennett:
Das glaube ich nicht. Ich sehe keinen Gegensatz zwischen Handwerk und Industrie. Es wäre durchaus möglich industrielle Arbeitsplätze so zu gestalten, dass auch die Industriearbeiter sich in ihrer Berufsbiographie stetig weiter entwickeln können. Haben sie den ersten Level an Kompetenzen erworben, dann könnten sie sich für die nächst höherer Stufe qualifizieren. Auf diese Weise ginge es immer weiter aufwärts. Für mich liegt der Schlüssel in der Planung und Gestaltung der Berufsbiographien. Ich denke, dass die Industrieunternehmen früher oder später Probleme bekommen, die ihre Produktion nicht im Gespräch mit ihren Mitarbeitern weiterentwickeln. Toyota ist in diesem Sinne ein sehr interessantes Unternehmen. Die Produktion nach dem Prinzip Craftmanship zu organisieren ist außerdem soviel effizienter als das alte fordistische System der Arbeitsteilung. Toyota hat viel höhere Produktivität als General Motors und Ford, weil die Mitarbeiter von Toyota motivierter sind. Und die sind motiviert, weil sie sich ständig weiterentwickeln können. Ich denke: Die größte Herausforderung besteht heute darin, mehr Industrieunternehmen dazu zu ermutigen den Weg von „Craftmanship“ zu gehen und von Toyotas handwerklicher Organisation von Arbeit zu lernen.

KulturGut:Hat der Japanische Weg nicht auch mit dem Prinzip „Zen“ zu tun. Mit der taoistischen Art und Weise zu denken und zu leben?

Richard Sennett:
Sicher. Ich verweise in meinem Buch in diesem Zusammenhang aber auch gerne auf die visionäre Arbeit von William Edwards Deming. In meinem Buch schreibe ich deshalb über das Prinzip des „Total Quality Managements“. TQM Systeme fördern einen kontinuierlichen Austausch und Lernprozess der Mitarbeiter darüber, wie die Arbeit oder die Produkte verbessert werden könnten. So werden die Probleme und ihre Lösung ihnen zu einer persönlichen Angelegenheit und sie stellen ihre Kreativität in den Dienst der Unternehmen.

KulturGut:Die Intellektuellen und die Wissenschaft fanden das Thema Handwerk bisher nicht sehr interessant und haben wenig darüber nachgedacht und gearbeitet. Warum?

Richard Sennett:
„Ja, das ist eine wunderbare Frage. Ich beschäftige mich mit diesem Aspekt in meinem Buch im Zusammenhang mit der Europäischen Entwicklung 17. Jahrhundert. Dazu ich erzähle ich Ihnen auch eine Geschichte. Ich unterrichte sowohl am MIT als auch am LSE. Meine Kollegen fragten mich letztlich, was ich eigentlich tue. Und ich habe gesagt: „ Ich schreibe ein Buch über Handwerk.“ Und dann habe zurückgefragt: Was denken Sie, macht Ihrer Ansicht nach ein gut funktionierende Entwicklungslabor aus? Einer von Ihnen – es war ein Nobelpreisträger – antwortete: ein gut arbeitendes Labor ist eines, in dem viele Hände bei der Arbeit sind und in dem der Meister und die Lehrlingen nicht nur in einem ständigen Austausch darüber sind, wie die Arbeit verbessert werden kann, sondern auch darüber, wie man aus Fehlern lernen kann. Fehler finden und dabei lernen, das ist gutes Handwerk und gute Wissenschaft. Meiner Meinung nach sind gute Wissenschaftler eigentlich Handwerker. Das Phänomen ist: Wir nennen sie nicht mehr so.

KulturGut:Würden sie es als eine Abwertung ansehen, wenn wir sie als Handwerker bezeichnen?

Richard Sennett:
Nein, ganz und gar nicht Sie würden es lieben.

KulturGut:
Da der Titel ihres Buches „Handwerk“ lautet, verrät uns die öffentliche auch viel darüber, wie das Prinzip Handwerk wahrgenommen wird. Gibt es kulturelle Unterschiede?

Richard Sennett:
Ich weiß nicht genug über Deutschland. Aber es gibt interessante Unterschiede zwischen England und den USA. In den USA wird „Craftmanship“ für ein unerreichbares Ideal gehalten. Die Menschen denken, dass Craftmanship mit dem Kapitalismus nicht vereinbar ist. Die Arbeitnehmer in den USA haben heute eine entmutigte, eine fatalistische Haltung. Sie glauben nicht mehr daran, dass die Arbeitgeber ein Interesse daran haben, sie zu fördern. Das gilt nicht für Großbritannien. Den Grund hierfür sehe ich in der Labour Party, für die seit ihrer Gründung vor 130 Jahren, Craftmanship für ein fundamental wichtiges Prinzipien ist. Das ist der Grund, warum in Großbritannien der Wunsch sehr verbreitet ist, eine gute Arbeit zu machen – ein Arbeit gut zu machen.

Die Amerikaner vermitteln oft ein falsches Bild von sich und ihrer Kultur. Sie präsentieren sich wettbewerbsorientiert und aggressiv. Ich habe mein Leben damit verbracht Amerikanische Arbeitnehmer zu interviewen und ich musste feststellen, dass sie zutiefst entmutigt sind. Sie glauben nicht mehr daran, dass sie die Möglichkeit haben werden das zu tun, was sie wirklich, wirklich tun wollen. Und sie sind voller Bedauern, dass sie sich nicht entfalten können. Und sie denken, dass die Gesellschaft sie dabei nicht unterstützt sondern eher behindert.

KulturGut:Es gab zu Beginn der Industriellen Revolution die Arts and Crafts Bewegung. John Ruskin war ihr wichtigster Vordenker und er hat das Thema Handwerk bereits sehr modern analysiert und gedacht.

Richard Sennett:
Das stimmt. Er ist eine sehr interessante Figur, weil er einen umfassenden wissenschaftlichen Blick auf Handwerk hatte. Die Arts and Craftsbewegung war ein wichtiges Experiment aber sie hat Fehler gemacht, aus denen wir lernen können. Leider war Ruskin von diesem furchtbaren Hass auf die Maschine beseelt. In diesem Punkt war er ein Mann seiner Zeit. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass die Maschine eines Tages zu einem Werkzeug des Menschen werden könnte. Deshalb führt er uns an dieser Stelle nicht weiter. Aber seine Betonung der Vielfalt und des experimentellen Arbeitens ist sehr bemerkenswert und wichtig. In diesem Sinne ist er in höchstem Maße modern.

KulturGut:Zumal Ruskin die Verantwortung des Konsumenten als erster mitgedacht hat. In gewisser Weise hat Ruskin einen nachhaltigen Lebensstil gefordert.

Richard Sennett:
Das gilt auch für William Morris, sein Mitstreiter. Er möchte, dass der Konsument stärker aus der Perspektive des Produzenten denkt. Der Konsument solle, wenn er etwas kauft, darüber nachdenken, was es ist und wie es gemacht wurde. Sie haben vollkommen Recht. In diesem Sinne sind beide sehr modern.

KulturGut:
Sie sprechen in Ihrem Buch darüber, dass wir in Bezug auf unsere Fertigkeiten auf den Schultern von Riesen stehen. Sie betonen wie wichtig es ist, dass Craftmanship nicht etwas ist, das nur die Eliten angeht.

Richard Sennett:
Mir ist sehr wichtig mit meinem Buch darauf hinzuweisen, dass die Eliten in den USA und Europa dazu neigen, auf alle Menschen herunterzusehen, die ganz normale Jobs machen. Aber das ist ganz Falsch. Denn selbst vermeintlich einfache Tätigkeiten und Berufe, erlauben es uns täglich neue Erfahrungen zu machen und dabei täglich etwas dazuzulernen. Tatsächlich hat Europa, ich denke an das Bildungswesen, den Glauben an die Fähigkeiten und Fertigkeiten die in jedem Menschen stecken verloren. Das ist ein wirkliches Problem. Es hat auch etwas mit Klassenbewusstsein zu tun. Es ist eine Form von Snobismus.

KulturGut:Liegt es nicht auch daran, dass wir nichts mehr von einander wissen? Wir haben keine Ahnung mehr, wie viel Fähigkeiten und Fertigkeiten viele Berufe erfordern? Das Erlernen eines Handwerks bis zur Meisterschaft erfordert gut sieben Jahre. Es ist nicht weniger zeitaufwendig als Musiker zu werden.

Richard Sennett:
Das ist völlig richtig. Aber vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen? Denn wenn uns bewusst ist, wie viel Wissen und Können selbst ganz normale Jobs erfordern, dann könnte es zur Folge haben, dass man Menschen besser bezahlen und mit mehr Respekt behandeln muss.

KulturGut
„Am Ende ihres Buches, in den Schlussfolgerung steht, dass „Handwerk Sozialismus braucht“ . Können Sie uns das erklären?“

Richard Sennett:
„Nun. Wir neigen dazu besondere Fertigkeiten dem Individuum als sein persönliches Verdienst zuzuschreiben. Die Meinung, dass wir diese Fertigkeiten ganz alleine oder sogar im Wettbewerb mit anderen Menschen entwickeln können, ist weit verbreitet. Dahinter steht eine diffuse Idee von Begabung. Etwas das auch irgendwie mit der Biologie zu tun hat. Das ist ein sehr verhängnisvoller Irrtum. Keiner der nichtmarxistischen Frühsozialisten, wie Charles Fourrier, Henri de Saint-Simon oder Robert Owen hatte verstanden, dass wir nur durch Kooperation und Interaktion mit anderen Menschen unsere Fähigkeiten weiterentwickeln können. Menschen, die immer nur in ihrer eigenen kleinen Arbeitsumgebung bleiben, können ihre Fähigkeiten nicht gut weiter entwickeln. Das meine ich, wenn ich in diesem Kontext von Sozialismus spreche. Wissen Sie, ich bin kein Marxist und war niemals einer. Wohl aber ein Sozialist.

Ich möchte mit meinem Buch den Zusammenhang zwischen Kooperation und der Weiterentwicklung unserer Fähigkeiten aufzeigen. Wissen Sie, wir glauben manchmal, das soziale Leben würde nur dazu beitragen, dass wir uns irgendwie besser fühlen. Aber es sorgt darüber hinaus dafür, dass Menschen besser Denken können. Auch wenn Sie das verstehen, ist diese Sichtweise nicht sehr weit verbreitet. Das ist es, was ich mit diesem Satz sagen wollte.

KulturGut:Vielen Dank Herr Sennett für das spannende Gespräch. Wir wünschen ihnen sehr viel Erfolg mit Ihrem neuen Buch.