Der Tod hatte jetzt lange genug gewartet, fand er, und
öffnete die Tür hinter der er drei lange Jahre so geduldig gestanden hatte. Er
betrat das Wohnzimmer des Hauses und setzte sich – jetzt auch für die
Todgeweihte sichtbar - direkt neben das Krankenbett. Er blickte sorgenvoll auf
das abgezehrte Gesicht der Kranken und freute sich auf die nahende Begegnung.
Denn der Tod war nicht gerne alleine.
Auf der anderen Seite des Bettes saß ein robuster alter Herr,
der zärtlich und resolut wieder und wieder über die Hand der Todgeweihten
strich – aufstand – dies und das besorgte, um dann wieder und wieder an das
Bett der Todgeweihten zurückzukehren, um Trost zu spenden, vorzulesen, die Hand
zu streicheln und andere notwendige Maßnahmen zu verrichten, die seiner festen
Überzeugung nach mit der Liebe bis in den Tod verbunden waren.
Es war kurz vor Weihnachten und auch die Welt war in keinem
guten Zustand. Man hätte meinen können, der Tod habe Wichtigeres zu tun, als
hier in Friedrichstadt an der Eider geduldig Jahr um Jahr auszuharren. Starben
nicht in Afrika die Menschen wie die Fliegen auch ohne ihn? Jung und alt, arm
und reich? Und war es nicht so, dass das Elend in Afrika neuerdings die
Fähigkeit zu haben schien, sein Territorium immer weiter auszudehnen. Der alte
Herr glaubte, im Vorbeigehen gehört zu haben, dass Afrika die Vororte manch
westlicher Großstadt inzwischen erreicht hatte - vielleicht weil es für einen Kontinent
einfach zu viel war?
Drei Jahre hatten diese Drei nun auf engstem Raum zusammen
gelebt und hatten dennoch nie wirklich offen über diese „ménage à trois“
gesprochen. Denn dafür, dies war das unausgesprochene Gesetz an diesem Ort, war
ja immer noch Zeit genug, bis es irgendwann einmal soweit wäre - an jenem
fernen Tag, der der heutige war.
Der Tod hatte dieses stillschweigende Kommittent geduldig
respektiert und hatte nur sehr umsichtig und geradezu rücksichtsvoll Platz
genommen. Er bemühte sich zu der Art von Dingen zu gehören, die so langsam zu
geschehen hatten, dass die Menschen sie nicht wirklich sehen konnten.
Lange, sehr lange war dieser Tod als solcher kaum sichtbar
gewesen, und seine Anwesenheit – obgleich wissenschaftlich so sauber
nachgewiesen – was in diesem Hause keinen geringen Stellenwert hatte - hatte dennoch
etwas vom Hörensagen. Verließen die beiden Bewohner das Haus, so blieb er
geduldig wartend an der Haustür stehen. Und kehrten die Bewohner vom Leben dort
draußen angeregt und mit rosigen Wangen wieder heim, dann saß er auf dem
Biedermeiersofa und nickte ihnen leise und freundlich zu.
Dann, nach etwa 12 Monaten betrat der Tod das Schlafzimmer
der Hausherrin und schlief von diesem Tag an unsichtbar zwischen den beiden
Lebensgefährten. Wenige Monate später stellte er sich in die Ausgangstür und
wurde zu einem unüberwindbaren Hindernis zwischen der Hausherrin und der Welt.
Zwar gelangten die Geräusche des Lebens noch gut wahrnehmbar
durch die geöffneten Fenster und über die Fernseh- und Radiokanäle in die Räume
und brachten Kunde von der Welt draußen. Auch die Freunde, die immer gerne in
das gastfreundliche Haus geschneit waren, blieben nicht aus und saßen noch oft
genug in der Küche über dem gewohnten Glas Wein.
Das gemeinsame Leben der beiden Weggefährten, nun auf das
Haus beschränkt, zog seine gewohnte Bahn.
Pater Noster |
Die Welt war Monat um Monat kleiner geworden - aber die
Gedanken waren noch immer frei und noch war Raum für Scherzen und Lachen, auch
dann noch, als sich die Schlafzimmertür für immer hinter ihr schloss und die
Gitter am Bett alle Gefahren bannen sollten, die sich für den schwindenden
Körper aus allzu unkontrollierten Bewegungen ergeben könnten. Schwäche und
Schwerkraft hatten über den Wunsch zu gehen oder zu stehen gesiegt. Nicht aber
über seinen unbeugsamen, seinen fruchtbaren und keine Grenzen akzeptierenden
Geist.
Die Hausherrin nahm all diese Veränderungen mit Gelassenheit
hin. Sie, erfuhr nun Tag für Tag, dass es zwischen Leben und Traum nur
graduelle Unterschiede gab, die nun auf immer schwinden würden.
Es war der Gnade ihres Zustandes zuzuschreiben und nicht
wenig auch der handwerklichen Kunst ihrer Schmerztherapeuten, dass sie klaglos
schon am Abend vergessen hatte, was sie noch am Morgen als Verlust empfunden
hatte. Die Träume nahmen sichtbar Überhand über das physische Sein und die Müdigkeit
nahm von Tag zu Tag zu. Es war offensichtlich, dass ihr Geist jeden Tag ein
kleines bisschen mehr zu der Überzeugung gelangte, dass die mühselige Rückkehr
in diese unsere Welt schlussendlich immer weniger der Mühe Wert sei.
Ist es gestattet? Fragte der Tod nun an diesem letzten
Morgen höflich und nahm – ohne auf Antwort zu warten – seinen rechtmäßigen
Platz ein. Beide wussten, dass jenes Grenzgebiet schon lange erreicht worden
war, das nicht mehr Leben war und noch nicht Tod, und die beiden waren sich
auch schon lange einig geworden, dass dieser letzte Weg, den sie jetzt zum
ersten Mal gemeinsam gehen würden, nur das belanglos gewordene Überschreiten
jener unsichtbaren Grenze war: Ein winziger Schritt ins Unsichtbare, von hier
nach hier statt von dort nach dort…
Denn wer von uns weiß schon, ob der Tod nicht doch einfach
nur die völlige Abwesenheit von Leben ist, an jenem Ort, an dem jeder von uns
willkommen ist und von dem doch niemand sagen kann, dass er jemals dort war.
Denn der Tod ist unser Weggefährte und - bei Gott - sollten
wir ihm nicht auch dankbar sein, wenn er die Gnade besitzt sich uns Lebenden zu
zeigen und uns seine wahre, seine unvermeidliche und seine gnadenvolle Natur zu
offenbaren?