Juni 09, 2017

Tag und nacht hab ich nur dies getan


Der Tod hatte jetzt lange genug gewartet, fand er, und öffnete die Tür hinter der er drei lange Jahre so geduldig gestanden hatte. Er betrat das Wohnzimmer des Hauses und setzte sich – jetzt auch für die Todgeweihte sichtbar - direkt neben das Krankenbett. Er blickte sorgenvoll auf das abgezehrte Gesicht der Kranken und freute sich auf die nahende Begegnung. Denn der Tod war nicht gerne alleine.

Ingrid Berta Hedwig Grzybowski
Auf der anderen Seite des Bettes saß ein robuster alter Herr, der zärtlich und resolut wieder und wieder über die Hand der Todgeweihten strich – aufstand – dies und das besorgte, um dann wieder und wieder an das Bett der Todgeweihten zurückzukehren, um Trost zu spenden, vorzulesen, die Hand zu streicheln und andere notwendige Maßnahmen zu verrichten, die seiner festen Überzeugung nach mit der Liebe bis in den Tod verbunden waren. 

Es war kurz vor Weihnachten und auch die Welt war in keinem guten Zustand. Man hätte meinen können, der Tod habe Wichtigeres zu tun, als hier in Friedrichstadt an der Eider geduldig Jahr um Jahr auszuharren. Starben nicht in Afrika die Menschen wie die Fliegen auch ohne ihn? Jung und alt, arm und reich? Und war es nicht so, dass das Elend in Afrika neuerdings die Fähigkeit zu haben schien, sein Territorium immer weiter auszudehnen. Der alte Herr glaubte, im Vorbeigehen gehört zu haben, dass Afrika die Vororte manch westlicher Großstadt inzwischen erreicht hatte - vielleicht weil es für einen Kontinent einfach zu viel war?

Drei Jahre hatten diese Drei nun auf engstem Raum zusammen gelebt und hatten dennoch nie wirklich offen über diese „ménage à trois“ gesprochen. Denn dafür, dies war das unausgesprochene Gesetz an diesem Ort, war ja immer noch Zeit genug, bis es irgendwann einmal soweit wäre - an jenem fernen Tag, der der heutige war.

Der Tod hatte dieses stillschweigende Kommittent geduldig respektiert und hatte nur sehr umsichtig und geradezu rücksichtsvoll Platz genommen. Er bemühte sich zu der Art von Dingen zu gehören, die so langsam zu geschehen hatten, dass die Menschen sie nicht wirklich sehen konnten.

Lange, sehr lange war dieser Tod als solcher kaum sichtbar gewesen, und seine Anwesenheit – obgleich wissenschaftlich so sauber nachgewiesen – was in diesem Hause keinen geringen Stellenwert hatte - hatte dennoch etwas vom Hörensagen. Verließen die beiden Bewohner das Haus, so blieb er geduldig wartend an der Haustür stehen. Und kehrten die Bewohner vom Leben dort draußen angeregt und mit rosigen Wangen wieder heim, dann saß er auf dem Biedermeiersofa und nickte ihnen leise und freundlich zu.

Dann, nach etwa 12 Monaten betrat der Tod das Schlafzimmer der Hausherrin und schlief von diesem Tag an unsichtbar zwischen den beiden Lebensgefährten. Wenige Monate später stellte er sich in die Ausgangstür und wurde zu einem unüberwindbaren Hindernis zwischen der Hausherrin und der Welt.

Zwar gelangten die Geräusche des Lebens noch gut wahrnehmbar durch die geöffneten Fenster und über die Fernseh- und Radiokanäle in die Räume und brachten Kunde von der Welt draußen. Auch die Freunde, die immer gerne in das gastfreundliche Haus geschneit waren, blieben nicht aus und saßen noch oft genug in der Küche über dem gewohnten Glas Wein.

Das gemeinsame Leben der beiden Weggefährten, nun auf das Haus beschränkt, zog seine gewohnte Bahn.
Pater Noster
Die Welt war Monat um Monat kleiner geworden - aber die Gedanken waren noch immer frei und noch war Raum für Scherzen und Lachen, auch dann noch, als sich die Schlafzimmertür für immer hinter ihr schloss und die Gitter am Bett alle Gefahren bannen sollten, die sich für den schwindenden Körper aus allzu unkontrollierten Bewegungen ergeben könnten. Schwäche und Schwerkraft hatten über den Wunsch zu gehen oder zu stehen gesiegt. Nicht aber über seinen unbeugsamen, seinen fruchtbaren und keine Grenzen akzeptierenden Geist.

Die Hausherrin nahm all diese Veränderungen mit Gelassenheit hin. Sie, erfuhr nun Tag für Tag, dass es zwischen Leben und Traum nur graduelle Unterschiede gab, die nun auf immer schwinden würden.

Es war der Gnade ihres Zustandes zuzuschreiben und nicht wenig auch der handwerklichen Kunst ihrer Schmerztherapeuten, dass sie klaglos schon am Abend vergessen hatte, was sie noch am Morgen als Verlust empfunden hatte. Die Träume nahmen sichtbar Überhand über das physische Sein und die Müdigkeit nahm von Tag zu Tag zu. Es war offensichtlich, dass ihr Geist jeden Tag ein kleines bisschen mehr zu der Überzeugung gelangte, dass die mühselige Rückkehr in diese unsere Welt schlussendlich immer weniger der Mühe Wert sei.

Ist es gestattet? Fragte der Tod nun an diesem letzten Morgen höflich und nahm – ohne auf Antwort zu warten – seinen rechtmäßigen Platz ein. Beide wussten, dass jenes Grenzgebiet schon lange erreicht worden war, das nicht mehr Leben war und noch nicht Tod, und die beiden waren sich auch schon lange einig geworden, dass dieser letzte Weg, den sie jetzt zum ersten Mal gemeinsam gehen würden, nur das belanglos gewordene Überschreiten jener unsichtbaren Grenze war: Ein winziger Schritt ins Unsichtbare, von hier nach hier statt von dort nach dort…

Denn wer von uns weiß schon, ob der Tod nicht doch einfach nur die völlige Abwesenheit von Leben ist, an jenem Ort, an dem jeder von uns willkommen ist und von dem doch niemand sagen kann, dass er jemals dort war.

Denn der Tod ist unser Weggefährte und - bei Gott - sollten wir ihm nicht auch dankbar sein, wenn er die Gnade besitzt sich uns Lebenden zu zeigen und uns seine wahre, seine unvermeidliche und seine gnadenvolle Natur zu offenbaren?